(werktitel : unbekannt) - box-shaped memories

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© Johanna Jaksch.png

«Nur deshalb spricht man so viel vom Gedächtnis, weil es keines mehr gibt» lautet ein vielzitierter Satz von Pierre Nora. Dieser Satz bestätigt die bekannte Logik, nach der ein Phänomen erst abhanden gekommen sein muss, um voll ins Bewusstsein zu gelangen. Bewusstsein entwickelt sich generell «im Zeichen des Abgelaufenen». Diese Logik passt gut zum retrospektiven Charakter der Erinnerung: So setzt diese doch erst dann ein, wenn die Erfahrung, auf die sie sich bezieht, «abgeschlossen im Rücken liegt». (Assman, Aleida: Erinnerungsräume.)

Die Erinnerung liegt nun im Rücken. Die Gegenwart quillt langsam über. Wieder wird ein Museum zum Archiv, ein Archiv wird zum Vergessen. Das ehemalige Ennsmuseum wird aufgelöst - der «Kasten an der Reith», so nannten es manche. Die kulturhistorische Sammlung wurden in den Räumen vergessen, genauso wie die Geschichten. Sie liegen in Kisten, warten in Schichten. Unter jeder Schicht der nächste Blick, eingeschlafen bis übermorgen. Überfluss trifft auf Leerstelle. Die Ausstellungsgegenstände müssen gehen, sollen archiviert werden, brauchen einen neuen Ort. Das Vergessen drängt. Die Dinge sind angefallen. Die Zeit vergeht hier langsamer. Die Geschichten die noch zu erzählen sind, müssen erzählt werden.

box-shaped memories

Anlässlich der Auflösung des Ennsmuseums beschäftigte sich der erste Teil der Ausstellung «box shaped memories» der Reihe (werktitel : unbekannt) mit diesen Räumen, mit den perspektivenlosen Gegenständen, mit der versperrten Geschichte. Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Frage nach dem Umgang mit Mikro- und Makroarchiven in einer Gegenwart, die sukzessive überquillt – nicht nur physisch. Mikroarchive entstehen überall, jederzeit, manchmal ganz ohne Absicht: die Jahre vergehen, die Stapel bleiben. Geschichten entstehen überall, jederzeit: als stille Post, zwischen den unterschiedlichsten medialen Räumen verdichten sich lose Ausgangspunkte zu neuen Erzählungen, zu fiktionalen Wirklichkeiten, die sich langsam verselbstständigen. In einer geteilten Gegenwart mit verschiedenen Blickwinkeln werden die Verhältnisse zwischen Ursprung und Deutung neu gesetzt. Daneben erlangen physische Rückstände, sowie Ansammlungen im gegenwärtigen Schatten eines Krieges eine ganz neue Bedeutung.

Die Geschichte von Weyer an der Enns: Eisentransport, Eisenverarbeitung, Schauplatz zweier Weltkriege. Erdgeschichte und Volkskultur des oberösterreichischen Ennsraumes. Der 1373 erstmals erwähnte «Kasten» war der wichtigste Anlegeplatz für die Flösser und Schiffer auf der Enns zwischen Grossreifling und Steyr. Die Geschichte des Ortes wurde geprägt durch ihre Räumlichkeit: das Ennstal. In dieser Umgebung zeigt (werktitel : unbekannt) einen Versuch, die flexiblen Wissensnetzwerke eines dämmernden Archivs neu zu denken. Ein Zoom vom Eigenen ins Unbekannte und umgekehrt. Die alten Erzählungen werden neu betrachtet, anders positioniert, wieder gelesen. Dabei wird nicht der gesamte Bestand zugänglich, sondern im Zentrum steht eine Auswahl an Artefakten. Ein Entgegenwirken gegen das Vergessen: Position beziehen, eine Neukonnotation der historischen Gegenstände und Fragestellungen.

artist meets archive

Eine Auswahl an jungen, zeitgenössischen Künstler:innen aus unterschiedlichen Bereichen reflektieren die verborgene Geschichte der Objekte innerhalb der eigenen Arbeit. Es entstehen Dialoge, Reaktionen und gemeinsame Erzählungen. Als Ausgangspunkt diente eine Auswahl von 12 Objekten aus dem in Kisten verpackten Ausstellungsfundus. Diese wurden dokumentiert und den ausgewählten Künstler:innen übermittelt. In einer Zeitspanne von zwei Monaten wurde mit einer künstlerischen Arbeit auf das jeweilige Artefakt reagiert, seine Geschichte erdacht und geformt – ergänzend zu den eigentlichen historischen Begebenheiten. In (werktitel : unbekannt) geht es um Momente der Erinnerung und Vergegenwärtigung, um die Spannung zwischen Realität und Fiktion als assoziativer Prozess, sowie das Abarbeiten am Vergessen. Ein Dialog zwischen Vergangenheit, Gegenwart und spekulativer Zukunft. Die Zukunft im Plural gedacht. Der Kasten geht, die Erinnerung bleibt.